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Widerstandsrecht
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Widerstand gegen die Notstandsgesetze

Am 30. Mai 1968 stimmten 384 Abgeordnete des Deutschen Bundestags und 20 Berliner Parlamentarier*innen für die Verabschiedung der Notstandsgesetze. 100 Bonner und ein Berliner Abgeordneter stimmten dagegen.

Mit der Notstandsverfassung wurden die Handlungsspielräume der Staatsorgane in einer Krisensituation erweitert und es wurde ermöglicht, die Grundrechte einzuschränken. Sollte es zu einem inneren oder äußeren Notstand kommen, kann ein „Notparlament“ anstelle von Bundestag und Bundesrat zusammentreten. Die BundeswehrWas bedeutet das? darf zur „Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer“ – auch gegen die eigene Bevölkerung – eingesetzt werden. Die Grundrechte jedes und jeder Einzelnen dürfen bei einem Ausnahmezustand beschnitten werden. Das betrifft insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis.

Das „Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes („Notstandsgesetze“)“ ist seit dem 28. Juni 1968 in Kraft (Dokumentarchiv des Deutschen Bundestags).

© Kurt Nelhiebel, Karikatur „Gessler spielt Tell“, 1963

Gefahr für die Grundrechte

Fritz Bauer lehnte wie viele Widerstandskämpfer*innen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus erlebt hatten und die Verantwortung des oder der Einzelnen stärken wollten, die Notstandsgesetze ab. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Einer der Gründe dafür war, dass die SPD, insbesondere ihr Verfassungsexperte Adolf ArndtWas bedeutet das? (1904-1974), in der Notstandsfrage schon frühzeitig die politische Mitwirkungsabsicht der Partei signalisierten. Der Opposition wurde dadurch der Wind aus den Segeln genommen.

Die SPD wollte sich bei den 1961 bevorstehenden Wahlen nicht ins politische Abseits drängen lassen und zeigte sich kompromissbereit. Kernpunkt der Kritik von SPD und GewerkschaftenWas bedeutet das? war, dass das Notstandsrecht die Gefahr des Missbrauchs staatlicher Gewalt geradezu heraufbeschwöre, namentlich eine Einschränkung des Koalitions- und Streikrechts sowie der Presse- und Meinungsfreiheit.

Die SPD beließ es aber, ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die IG-Metall, bei einer mehr oder weniger scharfen öffentlichen Ablehnung der Entwürfe, ohne ein eigenes Konzept vorzulegen. Umso schwieriger war die Situation der Notstandsrechtsgegner, die wie die Juristen Jürgen SeifertWas bedeutet das? (1928-2005), Fritz Bauer und Heinrich HannoverWas bedeutet das?, der linksliberale Helmut RidderWas bedeutet das? und der einflussreiche Begründer der Marburger SchuleWas bedeutet das? Wolfgang AbendrothWas bedeutet das? (1906-1985) gegen die geplante Verabschiedung der Gesetze kämpften.

„Gefahr im Verzuge“

Die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze war für Fritz Bauer wie für Jürgen SeifertWas bedeutet das? auch eine mit der SPD. Diese gab ihre Position preis, dass es im Innern keine Einsätze der BundeswehrWas bedeutet das? geben dürfe. Auf dem Weg zur Volks- und Regierungspartei passte sich die SPD dem vorherrschenden Sicherheits- und Abschreckungsdenken an.

Jürgen Seiferts Buch Gefahr im Verzuge zum Entwurf der Notstandsgesetze konnte 1963 nur erscheinen, weil Fritz Bauer eine Einleitung dazu schrieb. Als Mitglied des Sozialistischen Deutschen StudentenbundesWas bedeutet das? (SDS) war Seifert aus der SPD ausgeschlossen worden. Aufgrund der Spaltung des Protests in einen gewerkschaftlichen und einen studentischen wurde der Wissenschaftler auch aus der Gewerkschaftsbewegung herausgedrängt. Die IG-Metall erklärte, das Buch nur abzunehmen, wenn Seifert als Autor nicht genannt würde. Die Einleitung von Fritz Bauer glich diesen Streitpunkt aus.

Seifert Ziel war es, Sicherungen einzubauen. Diese könnten einen Missbrauch der Notstandsgesetze zwar auch nicht ausschließen, aber zumindest entlarven. Der Buchtitel war eine Anspielung auf Artikel 48 (4) der Weimarer Reichsverfassung und die Schwächung des Parlamentarismus durch die nie verabschiedeten Ausführungsbestimmungen (Art. 48, Abs. 5).

Fritz Bauers Warnung vor ständigen Grundgesetzänderungen

Fritz Bauer riet in der Einleitung dazu, die Grundgesetzänderung zu vertagen. Sie sollte nicht in einer Atmosphäre vorgenommen werden, „in der die Regierung weiten Teilen des Volkes und weite Teile des Volkes der Regierung misstrauen“. Er erinnerte daran, dass der Parlamentarische Rat wohlüberlegt auf ein Notverordnungsrecht und die Möglichkeit, die Grundrechte aufzuheben, verzichtet habe. Bauer sah auch keine Gefahr eines neonazistischen oder kommunistischen Putsches drohen: „Die Zeiten der Weimarer RepublikWas bedeutet das? mit ihrem wachsenden Links- und Rechtsradikalismus sind vorüber.“ (Fritz Bauer, „Einleitung“, in: Jürgen SeifertWas bedeutet das?, S. 8.)

© Kurt Nelhiebel, Karikatur „Grundrechte in der Falle?“, März 1966

Der „Zustand der inneren Gefahr“, also von inneren Unruhen und Naturkatastrophen, wurde aus Fritz Bauers Sicht von den Befürworter*innen der Notstandsgesetzgebung erst heraufbeschworen. Das gegebene rechtliche Instrumentarium sei ausreichend:

© picture-alliance / dpa | dpa
Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
Wir haben einen Verfassungsschutz des Bundes und der Länder; wir haben ein Strafgesetz, das den Gegner der Demokratie bereits weit im Vorfeld seiner Bestrebungen erfasst; wir haben Gerichte, die verfassungsfeindliche Parteien und Organisationen zu verbieten befugt sind. An Machtmitteln fehlt es auch unserer Exekutive nicht. Sollten wirtschaftliche Schwierigkeiten auftauchen, so verfügen wir über ein ausreichendes konjunkturpolitisches Instrumentarium, um einer Depression Herr zu werden. (…) Letztlich entbehrt ein Misstrauen gegenüber den deutschen Gewerkschaften jeder historischen Grundlage.
Fritz Bauer, „Einleitung“, in: Seifert, Gefahr im Verzuge, S. 10.

Krieg und Kriegsdrohung, den „Zustand der äußeren Gefahr“, sah Fritz Bauer in einer Zeit des Abflauens des Kalten Krieges nach der KubakriseWas bedeutet das? ebenso wenig als Begründung, „auf Biegen und Brechen das GrundgesetzWas bedeutet das? heute zu ändern“. Er befürchtete, wenn dem Entwurf die Giftzähne gezogen würden – es war absehbar, dass sich die kritischen Stimmen aus der SPD damit zufriedengeben würden – entstünde ein grundgesetzliches Vakuum, ein Interpretationsspielraum. Bei „der Grundhaltung deutscher Staatsrechtslehre und deutscher Staatspraxis“ müsse „mit einer baldigen Renaissance der Vorstellung von einem außerverfassungsmäßigen Notstandsrecht gerechnet werden“. (Bauer, „Einleitung“, in: Seifert, Gefahr im Verzuge, S. 11.)

Fritz Bauers Hauptargument gegen die Grundgesetzänderung war, ob die geplanten Notstandsgesetze überhaupt Rechtsgültigkeit erlangen könnten. Sie schränkten eine Reihe von Menschenrechten ein, die weder durch das GrundgesetzWas bedeutet das? geschaffen seien noch durch ein solches aufgehoben werden könnten:

Protest gegen Notstandsgesetze. ©AP Archive
Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
Die Menschenrechte, ohne die unser Staat zu existieren aufhört. Die Menschenrechte werden hierzulande nicht wie ein Heiligtum gehütet und gehegt, sie sind vielen nicht die Substanz der Verfassung, das A und O, ohne die unser Staat zu existieren aufhört. Die Ausnahmen, Einschränkungen und Vorbehalte pflegen hier gerne die Regel zu werden, da obrigkeitsstaatliches Denken nicht tot ist und durch das für die Gegenwart und Zukunft kennzeichnende Wachstum der Bürokratie immer neue Nahrung erhält. Die – wenn auch zunächst nur theoretischen – Möglichkeiten einer Suspendierung der Grundrechte können das Denken und Handeln bestimmen; sie bestätigen die vielen, allzu vielen, die an der Unverletzlichkeit der Grundrechte deuteln, auf ihren Realismus stolz sind und an das Ethos einer Staatsräson glauben. In Notwehr gegen eine – wirkliche oder vermeintliche – Arglist und Gefahr bleibt – frei nach Schiller – auch das redliche Gemüt nicht wahr. Die Bundesrepublik sollte, sofern uns Recht und Freiheit mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis ist, und solange eine wirklich zwingende Not nicht besteht, darauf verzichten, nach Eichhörnchenart Grundgesetzartikel auf Vorrat zu sammeln, deren Gefährlichkeit kaum bestreitbar ist.
Fritz Bauer, „Einleitung“, in: Jürgen Seifert, Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1963, S. 5-12, hier S. 12. 

„Aneignung der Verfassung“ durch Protest

Der Kampf gegen die Grundgesetzänderung, die dann von der Großen Koalition mit Bundeskanzler Kiesinger an der Spitze beschlossen wurde, war nach Ansicht des Juristen und Politikwissenschaftlers Joachim PerelsWas bedeutet das? eine „Aneignung der Verfassung“. Eine Übung in Verfassungspatriotismus, der in der außerparlamentarischen Opposition zum Ausdruck kam und über mehr als zehn Jahre erprobt wurde. Ehemalige KZ-Häftlinge nahmen am 11. Mai 1968 in ihrer Häftlingskleidung an einem Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze in Bonn teil. Es war einer der friedlichen Höhepunkte der Proteste der Studentenbewegung und der GewerkschaftenWas bedeutet das?.

Das Resultat war dennoch eine politische Niederlage, die Fritz Bauer bitter empfand. Er wertete die Notstandsgesetze als das, was sie in den Worten Jürgen Seiferts trotz aller Offenheit der politischen Situation und Kräfteverhältnisse waren: Ein „ErmächtigungsgesetzWas bedeutet das? mit Zeitzünder“. (Seifert, S.115)

KZ-Opfer demonstrieren, 11.5.1968, Bonn, Peter Popp ©picture-alliance/ dpa

Jürgen Seifert hat deutlich gemacht, wie schwer die Verabschiedung der Gesetzgebung im Jahr 1968 wog, mit deren Vorbereitung die Bundesregierung frühzeitig begonnen hatte. Er hat auch die Befürchtung angedeutet, dass Fritz Bauers Kampfgeist danach erschöpft war: „Am 24. Juni 1968 trat die Notstandsverfassung in Kraft. Wenige Tage später, am 1. Juli 1968, wurde Fritz Bauer tot in seiner Badewanne gefunden.“ (Wojak, S. 33) Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, nur dass Fritz Bauer skeptisch gegenüber allen obrigkeitsstaatlichen Tendenzen war. Er mahnte unermüdlich, dass politische Kräfteverhältnisse sich im entscheidenden Moment verändern können. Dem Missbrauch von Gesetzen ist dann Tür und Tor geöffnet und die Grundrechte sind in Gefahr.

Mit Blick auf die nationalsozialistische Geschichte bedeutete die Grundgesetzänderung trotz der eingebauten Sicherheiten – die deutsche Notstandsverfassung ist eine der ausführlichsten in Europa – eine Verpflichtung zu erhöhter Wachsamkeit. Vor allem die Vieldeutigkeit der Begriffe und die Verschachtelungen, die das Verständnis erschweren, bestärkten Fritz Bauers und Jürgen Seiferts Kritik am Entwurf für das Notstandsgesetz.

Seifert misstraue den Beteuerungen unserer Exekutive, so Bauer,

Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
die begreiflicherweise autoritäre Neigungen, eine Verfassungsgefährdung und einen Verfassungsverrat weit von sich weist; er weiß mit Adolf Arndt, dass ‚entscheidend ist, was aus einer Vorschrift scheinlegal gemacht werden kann und wohin sie tendiert. Es ist eine der bedeutendsten Rechtserfahrungen, dass jedes Gesetz unabhängig von seinen Urhebern eine selbständige Eigenwirkung entfaltet.'
Fritz Bauer, „Einleitung“, in: Seifert, Gefahr im Verzuge, S. 7.

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Glossar

Literaturhinweise:
Literatur:

Wolfgang Abendroth, Eugen Kogon, Helmut Ridder, Heinrich Hannover, Jürgen Seifert, Der totale Notstandsstaat. Die verhängnisvolle Vorsorge? Notstandsgesetze – schleichender Staatsstreich?  Frankfurt am Main: Stimme Verlag, 1965.

Fritz Bauer, „Einleitung“, in: Jürgen Seifert, Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. 3. Neubearbeitete Aufl. 1963, S. 5-12.

Martin Diebel, „Die Stunde der Exekutive“. Das Bundesinnenministerium im Konflikt um die Notstandsgesetzgebung 1949–1968. Göttingen: Wallstein, 2019.

Hans Heinz Holz, Paul Neuhöffer, Griff nach der Diktatur? Texte, Kommentare, Stellungnahmen zur geplanten Notstandsgesetzgebung. Köln: Pahl-Rugenstein, 1965.

Joachim Perels, „Der Kampf gegen die Notstandsgesetze als Aneignung der Verfassung“, in: Ders., Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“. Frankfurt am Main/ New York: Campus, 1999, S. 141-153.

Jürgen Seifert, Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung. Mit einer Einleitung von Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1963.

Boris Spernol, Notstand der Demokratie. Der Protest gegen die Notstandsgesetze und die Frage der NS-Vergangenheit. Essen: Klartext, 2008.

Dieter Sterzel (Hrsg.), Kritik der Notstandsgesetze – Mit dem Text der Notstandsverfassung. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 32, 1968.

Philipp Reimer, Simon Kempny, „Einführung in das Notstandsrecht“, in: Verwaltungsrundschau, 8, 2011, S. 253–259.

Falco Werkentin, Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 1984.

Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biografie. Eschenlohe: BUXUS EDITION, 2019.

Weblinks:

http://www.documentarchiv.de/brd/1968/grundgesetz-notstandsgesetze.html

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