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Schuld und Sühne

Fritz Bauer sah die Strafrechtsreform als eine der Grundvoraussetzungen für den Neuaufbau einer demokratischen Gesellschaft nach 1945. Für ihn war die Abschaffung des überkommenen SchuldWas bedeutet das?- und Sühnestrafrechts mit seinem Vergeltungsprinzip gleichbedeutend mit einer möglichen Überwindung des weiterhin vorherrschenden staatsautoritären Denkens.

Bauer knüpfte an die Gedankenwelt der Sozialdemokratie des Kaiserreichs und der Weimarer RepublikWas bedeutet das? an. Mit dem Heidelberger Programm der SPDWas bedeutet das? von 1925 verwies er auf das Postulat: „Ersetzung des Vergeltungsprinzips durch das Prinzip der Erziehung des Einzelnen und des Schutzes der Gesellschaft; (…) Regelung des Strafvollzugs im Geiste der Humanität und des Erziehungsprinzips.“

Als politisch Verfolgter, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatte, KZ-Haft, Gefangenschaft und Exil überlebte, wusste Fritz Bauer aus eigener Erfahrung, wie nahe individuelle Freiheit einerseits und die Abhängigkeit von äußeren Faktoren anderseits beieinander liegen.

SchuldWas bedeutet das? und Sühne“ als Strafrechtsprinzip abzulehnen, hieß für ihn nicht, dass es keine persönliche Schuld und Verantwortung gibt. Er wollte nur die ursächlichen Faktoren für kriminelle Handlungen aufdecken und diese nicht durch eine moralische Entschlussfreiheit ersetzen, die mit der Lebenswirklichkeit von Straftäter*innen wenig bis nichts zu tun hat. Bauer betonte, bewusste kriminelle Handlungen müsse jede*r selbst verantworten, was umgekehrt auch hieß:

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Das „Nein“ zum Unrechtsstaat war für Fritz Bauer eine tatsächlich gegebene Handlungsalternative. 
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Sie existiert in der Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, der abgesehen von Namen wie Stauffenberg, Geschwister SchollWas bedeutet das? und Georg Elser heute fast vergessen ist, aber für Fritz Bauer „Im Kampf um des Menschen Rechte“ stets lebendig blieb. Bauers Denken und Handeln beruhte geradezu auf dieser Alternative: Dem Recht und der Pflicht zum Widerstand, wenn die Menschenwürde verletzt wird und der Staat sich zum Anwalt des Unrechts macht.

Nicht Schuld, sondern
gesellschaftliche Veränderung

Fritz Bauers Vorstellungen von der Strafrechtsreform zielten auf eine gesamtgesellschaftliche Strukturveränderung. Sie enthielten ein strafrechtliches und ein kriminologisches Moment.

Strafrechtlich ging es ihm darum, autoritäre und obrigkeitsfromme Moralvorstellungen und Staatsideologien in der Rechtspraxis zu überwinden, und zwar von der so genannten Unzucht, der Strafbarkeit der Homosexualität von Erwachsenen, der so genannten KuppeleiWas bedeutet das? bis hin zum publizistischen „LandesverratWas bedeutet das?“. Der Staat besitze für diese durch das GrundgesetzWas bedeutet das? gesicherten Bereiche der Privatsphäre und der Sphäre öffentlicher Kommunikation – sofern nicht objektive Rechtsgüter der Individuen beeinträchtigt werden – keine Interventionskompetenz.

Aus Anlass der SPIEGEL-„Affäre“ von 1962 erinnerte Bauer daher an den Fall des Publizisten Carl von OssietzkyWas bedeutet das? und die Verwendung des Tatbestands „Landesverrat“ als politisches Kampfmittel in der Weimarer RepublikWas bedeutet das?. Landesverrat und politisch-publizistische Opposition gegen die Regierungs- und Verteidigungspolitik, so seine Ansicht, müssten strikt voneinander getrennt werden.

Kriminalpolitisch war Bauers Auffassung von Karl MarxWas bedeutet das? und Sigmund FreudWas bedeutet das? geprägt. Er machte die aus sozialer Ungerechtigkeit resultierenden Folgen für das Entstehen von Kriminalität verantwortlich. Konsequent wandte er sich gegen ein Repressionsstrafrecht, das Straftäter*innen bloß als Objekte von Vergeltung und Sühne behandelt. Die „Delinquenten“ sollten als Subjekte eines veränderbaren Verhaltens angesehen werden, wozu wir als Mitmenschen jederzeit beitragen können. Er erklärte:

Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
„Die Erbanlage des Menschen ist zur Zeit noch unabänderlich, aber veränderlich ist immer seine Umwelt. Seine Umwelt, seine Mitmenschen sind stets imstande, auf sein Verhalten Einfluss zu nehmen. Wenn das Tun und Lassen des Menschen ein Produkt von Anlage und Umwelt (A x U) ist, dann sind wir Mitmenschen das U der Multiplikation und aufgerufen, mitmenschliche Geschichte zu machen.“  
Fritz Bauer, „Die Reformbedürftigkeit der Strafrechtsreform“ (1966), in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S. 279-296, hier S. 290. 

„Wir sollen unseres Bruders Hüter sein“

Trotz allem selbst erfahrenen Unrecht setzte Fritz Bauer auf eine „Bruderschaft im Herzen“. Ähnlich wie zur selben Zeit der amerikanische Bürgerrechtsaktivist Martin Luther King Jr. sprach er von jener Liebe, von der geschrieben steht, dass es ohne sie nicht geht. Beide erkannten die Wurzeln rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Handelns in sozialer Benachteiligung und Ungleichheit vor dem Recht, in Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit. Ebenso in der Gewalt, mit der junge Menschen und bereits Kinder dazu gebracht werden, sich anzupassen und unterzuordnen.

Fritz Bauer appellierte an das Gewissen jeder und jedes Einzelnen und damit zugleich an die Gesellschaft. Freiheit und DeterminismusWas bedeutet das? sah er als menschliche Faktoren in einer Koexistenz, mit deren Widersprüchlichkeit wir leben müssen. Er glaubte nicht an die vollkommene Willensfreiheit, sondern sah den Menschen in seiner Not. Das bedeutete für ihn aber nicht, dass wir frei von Verantwortung sind. Es ging Bauer nur darum, dass diese anders verteilt wird. Damit setzte er auf das GrundgesetzWas bedeutet das?, welches

Deutschland Flagge Grundgesetz Politischer Streit
„(…) um die Unveränderlichkeit der Anlage des Menschen (wisse), aber auch um die Veränderlichkeit seiner Umwelt. Seine Mitwelt, seine Mitmenschen sind stets imstande, sein Verhalten zu ändern. (…) „Wir sollen unseres Bruders Hüter sein, das scheint mir die Aufgabe eines demokratischen und sozialen und menschenwürdigen Rechts. Das wäre die Menschenliebe, von der die Religionen sprechen. Sie weiß, dass die Menschen oft nicht wissen, was rechts und links ist, was Recht und Unrecht ist. Sie weiß, dass alle Menschen das Gute wollen und trotzdem verfehlen; der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Die Liebe vergilt aber nicht, sondern sie hilft.“
Fritz Bauer, „Die Schuld im Strafrecht“ (1962), in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S. 249-278, hier S. 277. 

Mit dieser Haltung ist das „Nein“ zum Unrechtsstaat für Fritz Bauer eine tatsächlich gegebene Handlungsalternative. Sie existiert durch alle Zeiten im Recht und der Pflicht zum Widerstand, wenn die Menschenwürde verletzt wird und der Staat sich zum Anwalt des Unrechts macht.

Schuld, Verantwortung und die
notwendige Resozialisierung von NS-Tätern

Die rasche und quasi reibungslose Integration der Nationalsozialisten bis in die höchsten Stellen der Verwaltung wird heute als größter Erfolg der Ära Adenauer gewertet. Welche langfristigen Belastungen für den demokratischen Neuaufbau in allen Bereichen daraus resultierten, speziell im Bereich der Justiz, aber auch in der Medizin und anderen Bereichen gesellschaftlichen Lebens, wird verdrängt.

So auch, wenn Fritz Bauer als Initiator des Auschwitz-Prozesses als „Unser letzter Stolz“ tituliert wird. Während Bauer selbst das Urteil im Auschwitz-Prozess scharf kritisierte, schmückt sich eine bundesrepublikanische Erfolgsgeschichtsschreibung damit.

Tatsächlich ist es dem Widerstand Bauers und dem Widerstand anderer Überlebender des Holocaust zu verdanken, dass die Straflosigkeit der NS-Verbrechen überhaupt unterbrochen wurde. Dass das Verbrechen Auschwitz zwanzig Jahre nach dem Krieg in allen Details von den Überlebenden vor Gericht geschildert werden konnte. Es ist der Erfolg einiger weniger unermüdlicher Widerstandskämpfer*innen, dass dieses Verfahren zustande kam.

Alle Menschen sind vor dem Recht gleich

Fritz Bauer machte sich für den Gleichheitsgedanken stark. Einen Grund, bei NS-Täter*innen eine Ausnahme zu machen, gab es nicht. Hinsichtlich der Mitwirkung am Genozid beharrte Bauer darauf, dass NS-Täter*innen Recht von Unrecht unterscheiden konnten. Sie sollten als Täter und Mittäter und nicht bloß als Mordgehilfen angeklagt und zur Rechenschaft gezogen werden. Er betonte:

Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
Man fürchtet auch mitunter, ein Verlängerungsgesetz (für die Verjährung von Mordtaten, d. Red.) verstoße gegen das grundrechtliche Gebot, alle Menschen gleich zu behandeln. Der Artikel des Grundgesetzes wird üblicherweise dahin interpretiert, daß gleiche Fälle gleich zu behandeln seien. Der Völkermord der nazistischen Täter steht aber der üblichen Mordkriminalität nicht gleich. Die nazistischen Taten weichen durch das ungeheure Ausmaß der Verbrechen und durch die ganz ungewöhnlichen Schwierigkeiten, die mit ihrer Verfolgung verbunden sind, von der sonstigen Kriminalität ganz erheblich ab. Notfalls mag der Bundestag in Übereinstimmung mit den Vorschlägen der Strafrechtsform die Verjährungsfrist für Mord ganz allgemein verlängern.
Fritz Bauer, „Die Verjährung nazistischer Mordtaten“ (1965). Abrufbar auf der Website der von F. Bauer mitbegründeten Humanistischen Union unter: http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/browse/13/back/nach-autoren/article/die-verjaehrung-nazistischer-mordtaten/ (zuletzt abgerufen am 02.11.2022). 

Diese Überzeugung wird ihm bis heute von konservativer, meist am rechten politischen Rand orientierter Seite angekreidet. Die NS-Täter, so lautet die obskure Behauptung, hätten sich nach 1945 reibungslos in die deutsche Gesellschaft integriert. Folglich hätten sie auch keiner ResozialisierungWas bedeutet das? bedurft. Außer Acht gelassen wird, dass die NS-Täter sich zwar rein äußerlich rasch integrierten. Die auffällige Unauffälligkeit, mit der sie die rasch zu Ende gebrachte EntnazifizierungWas bedeutet das? forcieren wollten und sich gegenseitig „PersilscheineWas bedeutet das?“ ausstellten, unterschied sich aber nicht von dem Konformismus, mit dem sie sich einige Jahre zuvor dem NS-Regime angedient hatten. Gefügig brachten sie auch jetzt wieder ihr Gewissen zum Schweigen und bemitleideten sich auch noch selbst.

Fritz Bauer durchschaute die Leichtigkeit, mit der die NS-Täter in ihre bürgerliche „Normalität“ zurückkehrten. Er entlarvte ihr zur Schau getragenes mangelndes Unrechtsbewusstsein, welches die Richter den Angeklagten und sich selbst in den NS-Prozessen zugutehielten. Bauer kritisierte, dahinter verberge sich „die beliebte Illusion, der Nazismus sei mit Hitler und seiner nächsten Umgebung identisch, er sei ein Betriebsunfall in der deutschen Geschichte, und seine Wurzeln lägen in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Notständen der Weimarer Zeit“. „Wer die Notwendigkeit bestreitet, die nazistischen Täter zu ‚resozialisieren’“, so Bauer, „bestreitet damit ein Bedürfnis, sich selbst zu ‚resozialisieren’, was jedenfalls bequem ist und Beifall findet. In Wahrheit tut ein allgemeines Neubesinnen auch heute noch und morgen not.“

Fast schon ironisch bemerkte er an anderer Stelle, wie mit zweierlei Maß gemessen wurde:

Über Hans Globke
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Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
Es ist eine der großen Paradoxien der Gegenwart, dass nicht die sogenannte Strafrechtsreform, sondern die Diskussion über NS-Prozess Anstoß zu einer Änderung der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Verbrechen und Verbrechern geben kann.  Plötzlich wird gefragt: Welchen Sinn haben Strafprozesse? Welches Ziel? Gar mancher ist ‚betroffen‘, als wärs ein Stück von ihm. Der soziale und individuelle Hintergrund dieser Strafsachen soll aufgeklärt werden, um den sich sonst (Hervorhebung im Orig.) kaum einer wirklich schert.
Fritz Bauer, „Die Reformbedürftigkeit der Strafrechtsreform“ (1966), in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S. 279-296, hier S. 283. 

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Glossar

Literaturhinweise:

Fritz Bauer, „Antinazistische Prozesse und politisches Bewusstsein. Dienen NS-Prozesse der politischen Aufklärung?“, in: Hermann Huss/ Andreas Schröder (Hrsg.), Antisemitismus – Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1965, S. 168-188.

Fritz Bauer, „Die Schuld im Strafrecht“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1996, S. 249-278.

Fritz Bauer, „Die Reformbedürftigkeit der Strafrechtsreform“ (1966), in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S. 279-296.

Fritz Bauer, „Im Kampf um des Menschen Rechte“ (1955), in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S.37-49.

Fritz Bauer, „Gedanken zur Strafrechtsreform“, in: Neue Gesellschaft, Jg. 6 (1959), H. 4, S. 281-289.

Fritz Bauer, „Was ist Landesverrat?“, in: DER SPIEGEL, Jg. 16 (1962), H. 62.

Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen 2007.

Hort Möller, „Unser letzter Stolz“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juni 2012.

Joachim Perels und Irmtrud Wojak, „Motive im Denken und Handeln Fritz Bauers“, in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1996, S. 9-33.

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