Strafrechtsreform
In den Augen Bauers laufen einige Entwicklungen des Strafrechts dem Grundgesetz und den Menschenrechten zuwider. Wir wollen hier zeigen, warum sich Bauer überhaupt für eine Strafrechtsreform einsetzte und an welchen Punkten er Handlungsbedarf sah. Die Reformideen Bauers gehen dabei nicht nur weit über rein prozessuale Veränderungen hinaus, sondern sollen einen menschenwürdigeren Umgang mit straffällig gewordenen Menschen, auch im rechtsphilosophischen Sinne, sicherstellen.
Reform des Strafrechts
Die Reform des Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1872 war für Fritz Bauer ein vordringliches Anliegen. Es ging ihm um ein Strafrecht als Mittel zur Resozialisierung. Der Strafvollzug sollte sowohl positiv spezialpräventiv als auch generalpräventiv wirken. Einerseits sollten Straftäter*innen die Möglichkeit zur Wiedereingliederung und zur Übernahme von Verantwortung bekommen, andererseits die Gesellschaft geschützt werden. Vergeltungsstrafen hingegen Schuld- und Sühnedenken waren für Bauer Überbleibsel eines autoritären Staatsdenkens, das die Nationalsozialisten grausam auf die Spitze getrieben hatten.
Bauers Reformansatz war dialektisch: Er wollte einerseits soziale Ungleichheit überwinden, um die gesellschaftlichen Ursachen von Straftaten zu beseitigen und weiteren Straftaten vorzubeugen. Andererseits sollte der oder die Straftäter*in nicht aus der persönlichen Verantwortung entlassen werden.
So wichtig für Fritz Bauer die Reform war, umso enttäuschender war es für ihn, dass er zur Mitwirkung an der vom Bundesjustizministerium 1954 einberufenen Großen Strafrechtskommission zur Formulierung des neuen Strafgesetzbuches nicht eingeladen wurde. Ihm blieb nur übrig, die konservative Ausrichtung der geplanten Reform, die damals immer noch an der Zuchthausstrafe festhielt, anzuprangern. Unter dem Titel „Die Reformbedürftigkeit der Strafrechtsreform“ schrieb er, weiterhin werde Wert auf Strafe, Vergeltung und Repression gelegt: „(H)ier schlägt wie seither ihr Herz.“
Als langjähriger Vorsitzender des „Unterausschusses Strafrechtsreform“ beim Rechtspolitischen Ausschuss des SPD-Parteivorstandes nahm Bauer dennoch aktiv Anteil. Vor einer großen Reform des Strafrechts musste man „den für die freiheitliche Ordnung wesentlichsten Teil, das politische Strafrecht, (…) novellieren“. Dass auch eine Kommission für die Reform des Strafvollzugs eingesetzt wurde, ging auf Fritz Bauers Mahnungen zurück. Desgleichen das Modell einer sozialtherapeutischen Anstalt in dem 1966 erschienenen Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, das dann von der Strafvollzugskommission der Bundesregierung empfohlen wurde.
Beschlossen wurde die Reform schließlich von der Großen Koalition. Sie verabschiedete die ersten beiden Strafrechtsreformgesetze im Juni und Juli 1969 (1. StrRG, 25. Juni 1969, BGBl. I, S. 645 und 2. StrRG, 4. Juli 1969, BGBl. I, S. 717). Fritz Bauer, der 1968 überraschend starb, erlebte die Abschaffung der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe nicht mehr. An ihre Stelle trat mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafrechts die Freiheitsstrafe.
Mitfühlender und mitleidender Mensch –
Der Humanist Fritz Bauer
An seinen Reformvorstellungen zum Strafgesetzbuch wird Fritz Bauers humanes Denken deutlich. Die Ambivalenz, die Straftaten wie allem menschlichen Handeln innewohnt, war ihm nicht fremd. Bauer war kein Verfechter der These, dass es keine Willensfreiheit (im Sinne eines totalen Determinismus) gibt. Ein allein auf die „Besserung“ von Straftäter*innen zielender Strafzweck war genauso wenig in seinem Sinn. Vielmehr sollten Straftäter*innen und die Gesellschaft jeweils Verantwortung übernehmen.
In einem Rechtsstaat betrachtete Bauer es als Aufgabe der Gemeinschaft zu helfen, den „sozialen Makel“, den eine Straftat und ihre Bestrafung bedeuten, zu beseitigen, indem die Ursachen gesucht und möglichst ausgeräumt werden.
Strafrechtsreform und NS-Prozesse
Am Beispiel der NS-Prozesse wird deutlich, dass Bauer von der Dialektik zwischen staatbürgerlicher Gleichheit und gesellschaftlicher Ungleichheit ausging. Er betonte, dass die NS-Täter*innen aus freiem Willen und in Übereinstimmung mit ihrer nationalsozialistischen Überzeugung handelten. Sie hatten sich aus freien Stücken einem verbrecherischen Regime verschrieben und Millionen Menschen entrechtet, vertrieben, beraubt und schließlich ermordet.
Aus diesen Millionen überzeugter Nazis, die sich nach 1945 den neuen Verhältnissen rasch anpassten, wurden damit nicht schlagartig überzeugte Demokrat*innen. Genauso wenig wurde 1945 aus dem nazistischen Unrechtsstaat schlagartig ein Rechtsstaat. Schon gar nicht, indem die eben noch überzeugten Nazis reibungslos in führende Positionen der Regierung, Verwaltung und des öffentlichen Lebens zurückgeholt wurden.
Die NS-Täter*innen mussten nach Bauers Überzeugung die Verantwortung übernehmen. Sie gehörten vor Gericht und ihr Handeln musste bestraft werden, sie bedurften der Re-Sozialisierung.
Die Gesellschaft hatte eine Mitverantwortung zu übernehmen: einerseits dafür, dass es zu solchen kapitalen Verbrechen kommen konnte, andererseits dafür, sie künftig zu verhindern und die „Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ – so der Titel von Bauers Analyse – zu beseitigen.
Ernst Müller-Meiningen jr., Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat über Fritz Bauers Reformvorstellungen gesagt, er habe sich – „Ankläger zwar von Profession“ – in der Strafrechtsreform vor allem als mitfühlender und mitleidender Mensch engagiert. Bauer hielt ein Schuld- und damit Vergeltungsstrafrecht sogar für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Für ihn war der Sühnegedanke mit dem Auftrag eines sozialen Rechtsstaats in einer pluralistischen Demokratie nicht vereinbar. Die Juristin Ilse Staff bemerkte treffend, Fritz Bauers Ziele setzten mitbürgerliche Solidarität und eine sozial und politisch lernfähige Gesellschaft voraus.
Aktuelle Reformfragen
Man kann, meinte der Jurist Ernst Müller-Meiningen jr. 1968, den hessischen Generalstaatsanwalt einen Radikalen und Außenseiter, einen Ketzer nennen, was seinen Kampf gegen die Strafe und für den Maßregelvollzug angeht. Während sich längst ein überwiegend konservatives künftiges deutsches Strafrecht abzeichnete, hoffte Müller-Meiningen, dass Bauers humanitäre Vorstellungen wenigstens im Kern weiterwirken würden. Ilse Staff stellte indessen 25 Jahre später fest, viele Anliegen Bauers hätten an Aktualität nichts eingebüßt.
Aus heutiger Sicht kann man festhalten: Bauers Kritikpunkte am Strafrecht und Strafvollzug sind nicht überholt. Das Thema „Warum Gefängnisse“ beispielsweise ist heute gewiss nicht weniger aktuell, ebenso wie die Frage nach dem Strafzweck.
Und die Frage, wieviel Freiheit und wieviel Determinismus bei Straftaten im Spiel sind, wird je nach Menschenbild und Eigeninteresse wohl immer verschieden beantwortet werden. Gleiches gilt für spezial- und generalpräventive Zielsetzungen des Strafvollzugs und deren unterschiedliche Gewichtung. Dass Fritz Bauer diesbezüglich weit mehr auf die positiven menschlichen Fähigkeiten setzte als ihnen zu misstrauen, gehörte zu seinem Menschenbild und Politikverständnis. Es prägte seine ablehnende Haltung gegenüber der Vergeltungsstrafe und gegenüber der Institution Gefängnis, die er lieber abgeschafft hätte.
Gefängnisse
Insofern ist eine gewisse Ironie darin zu sehen, dass zwei Jahre nach Fritz Bauers Tod, 1970, die neue Justizvollzugsanstalt Darmstadt nach ihm benannt wurde. An der Planung der Anstalt war Bauer selbst beteiligt. Er hatte sich für ein „Gefängnis-Hochhaus“ ohne Gefängnisgitter eingesetzt, Vorbild war ein neunstöckiges Gefängnis im New Yorker Stadtteil Brooklyn, das mitten in der Stadt gebaut werden sollte. Der kontroverse Entwurf setzte sich nicht durch und die Anstalt wurde am Stadtrand gebaut.
Zur Aktualität der Frage nach dem Sinn von Gefängnisstrafen und Gefängnissen siehe auch unser Interview mit dem Rechtsanwalt Thomas Galli.
Thomas Galli
Thomas Galli arbeitete über fünfzehn Jahre lang in leitenden Positionen in der Justiz in Bayern und Sachsen und leitete zuletzt zwei Justizvollzugsanstalten, bis er 2016 auf eigenen Wunsch diese Stellung aufgab. Er beschäftigt sich wissenschaftlich mit kriminologischen Fragestellungen und setzt sich öffentlich für eine Reformation des Strafvollzugs in seiner jetzigen Form ein. Seit 2016 ist er als Rechtsanwalt in einer Kanzlei in Augsburg tätig.
Sieh dir hier an, was er zum Thema der Strafrechtsreform sagt.
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Genocidium
Fritz Bauer’s Büro 1968
Glossar
Quellen- und Literaturhinweise
Fritz Bauer, Auf der Suche nach dem Recht. Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung W. Keller und Co., 1966.
Fritz Bauer, Das Verbrechen und die Gesellschaft. München, Basel: K. Desch, 1957.
Fritz Bauer, „Das Strafrecht und das heutige Bild vom Menschen“, in: Leonhard Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform. München: C. H. Beck, 1967, S. 11-23.
Fritz Bauer, „Die Reformbedürftigkeit der Strafrechtsreform (1966)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main/New York: Campus: 1998, S. 279-296.
Fritz Bauer, „Die Schuld im Strafrecht (1962)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main/New York: Campus: 1998, S. 249-278.
Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns. Hrsg. vom Landesjugendring Rheinland-Pfalz. Mainz 1961; Neuausgabe Hamburg, CEP Europäische Verlagsanstalt, 2016, 122. S.
Fritz Bauer, „Gedanken zur Strafrechtsreform. Wie steht die SPD zum Entwurf der Großen Strafrechtskommission? (1959)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main/New York: Campus: 1998, S. 233-247.
Fritz Bauer, „Selbstverwaltung und Gruppen-Therapie im Strafvollzug“. Schriften des Fliedner-Vereins Rockenberg, (1957), H. 15, S. 3-23 (Sonderdruck aus Recht der Jugend, 5. Jg. (1957), H. 17-19)
Fritz Bauer, „Sexualstrafrecht heute (1963)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main/New York: Campus: 1998, S. 297-313.
Fritz Bauer, „Straffälligenhilfe nach der Entlassung (1957)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main/New York: Campus: 1998, S. 315-339.
Günter Blau, „Fritz Bauer“, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 51. Jg. (1968), H. 7/8, S. 363-365.
Diether H. Hoffmann, (Trauerrede), in: Hessisches Ministerium der Justiz (Hrsg.), Fritz Bauer. In Memoriam. Wiesbaden 1969 (Hrsg. v. Hessischen Minister der Justiz, Dr. Johannes E. Strelitz), S. 19-22.
Ernst Müller-Meiningen jr., „Wenn einer nicht im Dutzend mitläuft. Erinnerungen an den hessischen Generalstaatsanwalt Bauer, der am 16. Juli 65 Jahre alt geworden wäre“, in: Süddeutsche Zeitung, 16.7.1968.
Ilse Staff, „Überlegungen zum Staat als einer „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“. In Memoriam Fritz Bauer“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12 (1993), S. 1520-1529.
Werner Wendeberg, Darmstädter Gefängnisse. Architektur und Ideologie – Standort-Entscheidungen und Bauweise der Gefängnisse in Darmstadt als Spiegel der Einstellung zu Kriminalität und Strafvollzug. Darmstadt 2005 (Mskr.).
Weblinks
Webseite des Arbeitskreis Alternativentwurf mit einer Auflistung der Entwürfe und Literaturangaben zu Publikationen der Mitglieder des Arbeitskreises zu den Entwürfen.